Rita Kiehnbaum
 
 



 
 

    Gedanken beim Lesen eines Buches
 



 
 
 

KONRAD WOLF: DIREKT IN KOPF UND HERZ
 

Das Motto, das dem Text vorangestellt ist, macht mir den Autor vertraut als wäre es mein Bruder.
Es ist zweisprachig und lautet in der Übersetzung so:

VERSÄUM NICHT: RUH NICHT! SCHAFFE!
TU DEINE ARBEIT GERN
UND KÄMPFE MIT DEM SCHLAFE
DEM FLIEGER GLEICH,
DEM STERN

Es ist ein Vers von Pasternak.

Konrad Wolf hat sehr früh in den Krieg müssen, kam heil in die Trümmerwüste Berlin, in ein Land zurück, das noch lange nicht seine Heimat war. Hatte es doch seine Eltern vertrieben. Die Troika von Peredelkino, seine liebe, tapfere Mutter, alle die Freunde dort bei Moskau und die Mütter der Freunde - das war seine Heimat. Dann, nach Jahren der Arbeit, der Entdeckungen und Erfahrungen hatte er plötzlich zwei Heimatländer, beherrschte zwei Sprachen. Dieses Privileg konnte leider -so unreif, so voller Vorurteil und Feindschaft waren die Menschen damals (sind sie es nicht leider noch ?) jederzeit in ein Handicap umschlagen. Dann hieß - und sei es hinter vorgehaltener Hand - entweder FRITZ oder VATERLANDSVERRÄTER. Konrad Wolf hat, wie jeder, der sein Bestes gibt, unter Kälte und Ungerechtigkeit sehr gelitten.

Von seinen Filmen sah ich drei : "Sterne", "Der geteilte Himmel" und "Goya".
Bei "STERNE" merkt man, was für ein junger Mensch sein Regisseur war. Es ist aber ein richtiger, ein sauberer Film, der Wesentliches sagt und zeigt.
DER GETEILTE HIMMEL entsprach Christa Wolfs Buch und unseren eigenen Gefühlen und Überzeugungen in Idealbesetzung.
Das war damals (und ist es sicher heute noch) ein großer Film.
Als Meisterleistung habe ich sofort GOYA empfunden.
Wiederum Idealbesetzung und Idealverfilmung eines literarischen Stoffes. Mein erstes Erlebnis eines wirklichen FARBFILMS. Kein buntes Chaos sondern wirkliche Arbeit mit dem Medium Farbe. Von überwältigender Einfachheit und Raffinesse.
Der rote Rock, den die Alba fallen läßt, durchlodert noch immer das Universum der Leidenschaft.
Der arge Weg der Erkenntnis des großen Goya als Gleichnis.
Die Versuchungen der Macht. Ihre Grenzen.
Die Wahrheit.
Der Preis, den man zahlt.
 



 

THOMAS WOLFE: SCHAU HEIMWÄRTS, ENGEL!

Mir, die ich die dramatische Wucht kurzer Prosa bewundere, kommt sein umfangreiches Buch (wieviele Wörter? - "Soviele Wörter wie Tom Wolfe hab ich nicht", schreibt Hemingway), wie eine Riesensammlung unerlöster short-stories vor, die alle um das gleiche Thema kreisen: Identitätssuche und Heimverlangen. Die Briefe offenbaren das altbekannte Elend, Abhängigkeit vom Verleger, die ewig unsichere ökonomische Situation trotz harter Arbeit, die künstlerischen Zweifel.
Die stille Tapferkeit im Schatten des zu frühen Todes. Spontane Zuneigung zu ihm aber besonders wegen seiner Zeilen über Deutschland, dessen Kultur er liebt und wo er über Rowohlt eine Lesergemeinschaft gefunden hat. Nicht geblendet durch Lob und Freundlichkeit schreibt er zur Zeit der Olympischen Spiele eine Karte mit folgendem kurzen Text aus Berlin nach Hause: "Diese Jungs können verdammt gut marschieren, und es sieht aus, als ob sie bald wieder losschlagen wollen."
Welche klarsichtige Schlußfolgerung, wo so viele blind und taub waren! Sie erinnert mich z.B. an das was Joseph Roth, 1928 im Kreis seines Verlegers S. Fischer verzweifelt lächelnd sagte: "In 10 Jahren wird a) Deutschland gegen Frankreich Krieg führen b) werden wir, wenn wir Glück haben, als Emigranten in der Schweiz leben, c) werden die Juden auf dem Kurfürstendamm geprügelt werden." Niemand glaubte ihm damals.
Der Franzose Pierre Bertaux hat diese Sätze in seinen Erinnerungen bewahrt. Das sei ihm nicht vergessen. Ein inniges Gefühl von Dankbarkeit gibt meinem Verlangen neue Nahrung, dieser internationalen geschwisterlichen Welt anzugehören.
"Denn diese Menschen sehen was die andern nicht sehen... Die Gabe des Sehens, des Staunens ist eine den Dichtern vorbehaltene." (P. Bertaux 1970 vor der Akademie der Künste der DDR in seiner Gedächtnisrede auf Heinrich Mann.)

Thomas Wolfe: Schau heimwärts, Engel. Rowohlt Verlag 1995, 712 S.; 16,90; derselbe: Briefe. Rowohlt Verlag 1987, 623 S., DM 42,--.
 



 

ANDZEJ SZCZYPIORSKI: SELBSTPORTRÄT MIT FRAU

Wem tue ich nur dieses zum Wegschmeißen zu teure Buch als Geschenk an? Hätte ich es doch bei der aufregend geschriebenen Rezension von Hermann Kant und meinen sofort geäußerten düsteren Ahnungen belassen!
Besonders der letzte Abschnitt der Rezension (ND vom 7.10.94) erschien mir wie die bestmögliche Kennzeichnung von Kants eigener Erzählweise und verführte mich, die sechsunddreißig Mark für das beim DIOGENES VERLAG in Zürich erschienene Werk hinzublättern.
Was hilft es mir jetzt, daß ich die Geschichte selbst las? Daß ich anfangs meinen begründeten Widerwillen fast vergaß, von Seite 20 ab, durch "das Gespräch mit dem Geheimen ", die kenntnisreiche, meisterhafte Beschreibung der geschilderten Situation vom Lesevergnügen regelrecht geschüttelt wurde? Mindestens ab Seite 41, von "Eigentlich bin ich doch ein schrecklicher Flegel" an, hätte ich nach dem dazugehörenden Abschnitt das Buch zuklappen müssen.
Die Gedanken, die an dieser Stelle geäußert werden, als Männerphantasien und das, was - ein paar Seiten später - die Horde Kerle wehrlosen Frauen antut, fast mitleidig als Verwilderung zu bezeichnen, erscheint mir als eine erstaunliche Abwiegelung.
Wer davon absehen kann, dem begegnen in diesem Buch viele, mit großer Erzählkunst formulierte Details.
Kant nennt z. B. unter anderem, "daß die Regierungsverfahrensweise eines Riesenreiches nicht einem kleinen Land übergestülpt werden darf."
Ich würde z.B. die Gefängnisbesuche als unvergeßlich geschildert hervorheben und die im Urgrund damit verbundene zerknirschte Sehnsucht nach Erlösung durch wirkliche Liebe, die der Hauptheld, so schwant es ihm ganz richtig, nicht wert ist - trauriger Antikommunist, zu dem er wurde, möglicherweise mit dem schlauen Gedanken im Hinterkopf, daß derlei Verwandlung jetzt günstigen Markt hat.
Hätte ich es beim Lesen der Rezension von Hermann Kant und bei meinen düsteren Ahnungen belassen!
Wem tue ich nun dieses zum Wegschmeißen zu teure Buch als Geschenk an?

Andzej Szczypiorski: Selbstporträt mit Frau. Diogenes Verlag, Zürich 1994.


PETER HØEG: DER PLAN VON DER ABSCHAFFUNG DES DUNKELS

Der dänische Autor stellt eine Gruppe blutjunger Menschen gegen die dämonische, allumfassende, grausame offensichtliche und geheime Macht des kapitalistischen Staates und seine sich demokratisch gebärdenden Auswahl- und Erziehungsmethoden.
Keine Frage, auf welche Seite des ungleichen Kampfes der Autor uns mitnimmt. Es ist seine. Und dies ist die Laudatio für alles, was ich bisher von diesem Menschen las:
 
 

PETER HØEG

Der an die Tür pocht
Sein beharrliches Muster
Der pocht
Bis du wach bist

Der übers Eis geht
In die finstere Kälte
Unaufhaltsames Wesen:
Der Mensch
Der nicht aufgibt

Der Mann aus dem Norden
Mit dem freundlichen Lächeln
Mit der Hoffnung im Herzen
Mit dem Kind an der Hand

Er pocht an die Türen
Sein beharrliches Muster
Damit wir uns sammeln
Einander zu helfen
Die Liebe zu retten
Die Erde
Das Licht


 

Peter Høeg: Der Plan von der Abschaffung des Dunkels. Hanser-Verlag München/Wien 1995, 291 S., DM 39,90.


          HERMANN KANT: KORMORAN

Manchmal heißen sehr sanfte Menschen Blechschmitt. Dieser hier wird vom Erzähler KORMORAN genannt. Man muß nicht in Brehms TIERLEBEN nachsehn: Den entsprechenden Passus liefert der Autor gleich mit. Außerdem ist dieser seltsame Vogel, der sich sowohl im Wasser als auch in der Luft sicher zu bewegen weiß, durch die futterneidischen Flüche seiner Kollegen Fischer ins öffentliche Gerede gekommen. Kormoran also. Paul-Martin dazu. Na, horch und guck!
Wer das Gedröhn in den gesamtdeutschen Gazetten verfolgte, schlägt dieses Buch vielleicht mit speziellen Erwartungen auf - und empfängt eine Lehre. Die nämlich, daß dieser Autor gar nicht daran denkt, unser uns selbstverständlich erscheinendes Abonnement auf seinen scharfen Witz und darauf, daß er unsre unersättliche Vergnügungssucht stillt, zu bedienen, daß er Kastanien für uns aus dem Feuer holt oder auf dem Hochseil über reißende Fluten radelt. Nichts von dem. Und doch alles darüber.
Es ist trotz angemessen beschriebener Betriebsamkeit eine stille Geschichte, wie sie mehr oder weniger uns allen jährlich passiert. Wenn wir Glück haben. Meist sind wir hinterher noch da. Was man von Paul-Martin Kormoran nicht behaupten kann nach dem Geburtstag, von dem hier erzählt wird.
Dabei hatte alles so gut angefangen! Man gab sich die erdenklichste Mühe, dem Tag Heiteres abzugewinnen. Dankbarkeit vielleicht, Zukunftshoffnung sogar! Die Änne, die Ilse, die Ruth, der Herbert, Schwägerinnen, Schwager, Freunde und Bekannte; nicht zu vergessen - Gotte, ne- die Nachbarin am Zaun und Kormoran selbst. Unvergeßlich, obwohl milde belächelt, die AGITKA HEIMATLOSE LINKE mit dem auf den neuesten Stand gebrachten Lied von Pastuur Gauck sien Kauh! Unvergeßlich die Änne, Ehefrau des Paul-Martin, praktizierende Ärztin, ausreichend aufgeklärt und illusionslos also, die, um ihren Mann zu retten, auch einen Schamanen um Hilfe gebeten hätte. Unvergeßlich dieser ordinäre Stinkstiefel von Schwager, der, nach dem Fortgang der Geschichte fragend, die der Schriftsteller gerade in Arbeit hat, eine gloriose Zusammenfassung aktuellen Geschehens gibt, die richtig bleibt, obwohl keiner mehr hört. Denn Paul ist tot.
Diese Geschichte sollte ein Bühnenstück werden, wird uns verraten. Auch, warum daraus nichts wurde. Weil aber ein reizvoller Gedanke ein reizvoller Gedanke ist, läßt der Autor mal zwischendurch einen imaginären Vorhang fallen und berichtet z.B. von einer unglücklichen Liebe, die mich sehr erheiterte.
Sodaß - ob vor oder hinter dem Vorhang - sich letzten Endes der Autor doch als der zu erkennen gibt, der uns vertraut ist, auf dessen Beistand, auf dessen Aufrichtigkeit wir rechnen, mit dem wir trauern und mit dem wir - immer noch und trotz allem - lachen können.
Salut, Kant!



 

MEJA MWANGI: TÖDLICHE FREUNDSCHAFT

Mir ist ein Kinderbuch vor die Augen gekommen, das hat Meja Mwangi geschrieben. Er wurde 1948 geboren und wuchs zur Zeit der Mau-Mau-Aufstände in Kenia auf. Heute, so sagt der Buchumschlag, ist Mwangi einer der bekanntesten Autoren des Landes. Seine Romane und Kinderbücher wurden in zehn Sprachen übersetzt und in Deutschland, Großbritannien und Kenia mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet. Dieses Buch heißt KARIUKI und hat den Jugendliteraturpreis verdient erhalten. Es erzählt von der verbotenen Freundschaft zweier Jungen. Der eine, Kariuki, gehört mit seiner Familie zum Gesinde des weißen Farmers "BWANA" Ruin, eines furchteinflößenden Riesen, bärenstark, mit grünen Augen, mit denen er, so sagt man, auch nachts sehen kann, auch den Leuten ins Herz, um jede Lüge zu entdecken. Durch die Hautfarbe Jesus verwandt - also Gott ähnlich. Allmächtig. Der andere Junge, Nigel, ist aus England gekommen, um "BWANA" Ruin, seinen Großvater zu besuchen.
Es sind Ferien. Kariuki weiß nicht recht, ob er sich freuen soll, dem grausamen Hohlkopf von Lehrer für eine Weile entronnen zu sein, denn zu Hause wartet schon seine gestrenge Mutter mit ihrer endlosen Liste von Aufträgen - - - So zieht er seinen Heimweg in die Länge und trifft am Staubecken des Flusses unter den alten Bäumen Nigel mit seiner Angelausrüstung.
Die verfitzte Schnur ergibt die erste Gelegenheit, den streng verbotenen Kontakt aufzunehmen, der für beide Seiten fröhlich, spannend, lehrreich, zum Schluß lebensbedrohlich, aber zwischen den beiden Jungen zu einer echten Freundschaft wird. Nigel beginnt, barfuß zu laufen und zum Staunen der versammelten Dörfler und zum Entsetzen von Kariukis Vater Maisbrei zu essen. Kariuki stolziert vor der Hütte in Nigels Lederschuhen herum.
Jungs, heißt es in dem Buch, merken immer zuerst, wenn etwas nicht stimmt - aber sie kennen und beachten die Gründe nicht. Daß der Vater als Koch beim Farmer und dessen Frau sich von dieser ohrfeigen lassen muß, weil mal etwas in der Küche nicht rechtzeitig fertig wurde, jederzeit fortgejagt werden kann und die ganze Familie dem Hunger preisgegeben wäre, erkennt Kariuki weniger. Er kennt seinen Vater vor allem als streng, hört wie er sich nachts schlaflos stöhnend herumwälzt, wie er gegen die Ungerechtigkeit flucht und fürchtet sich vor seiner ohnmächtigen Prügel.
So verspricht er seinem Vater, nicht mehr mit "dem kleinen weißen Mann" herumzutoben und tut zwei Minuten später genau das Verbotene. Beide Jungen jagen, fischen, rennen zusammen immer tiefer in den Wald. Sie haben eine abenteuerliche Begegnung mit "OLD MOSES", dem gewitzten Warzenschwein und dann ist plötzlich auf einem ihrer Streifzüge Nigel verschwunden. Kariuki sucht verzweifelt nach ihm, wird dabei aber nur zur zweiten Geisel der MAU-MAU.
Hari, großer Bruder, von dem Kariuki alles gelernt hat, was er weiß, mit den Waldkriegern in Verbindung, rettet die beiden Kinder und bezahlt dafür mit dem Leben.
Die Geschichte verliert bis zum bitteren Schluß nichts von ihrer freundlichen Sachlichkeit. Sie macht uns herzzerreißend still die Zusammenhänge zwischen Recht und Unrecht klar. Auch, daß Freundschaft und Liebe, sich über alle Verbote hinwegsetzend, mitten in der Gefahr nicht nach dem Preis fragt. Daß sie der einzige menschliche Grund sind zum Leben und zum Kampf um Gerechtigkeit.
Wir hatten in unserem kleinen Land DDR viele gute Bücher und Kinderbuchschreiber. Ich mußte beim Lesen von KARIUKI an zwei von ihnen denken - an Geschichten, die wir sehr liebten und lieben, wie zum Beispiel "Der Neger Nobi" und "Herniu und Asni" von Ludwig Renn und an "Heinrich verkauft Friedrich an den fremden Herrn" von Uwe Kant. Uwe Kant hatte im Mai Geburtstag. Nachträglich die herzlichsten Wünsche für Gesundheit und Schaffen! Dank den Übersetzern und dem Lamuv Verlag Göttingen, daß sie uns mit Meja Mwangi bekannt gemacht haben, der im Nachwort schreibt: "Während der Zeit des Ausnahmezustandes aufzuwachsen, war eine grauenhafte Erfahrung für ein siebenjähriges Kind ... Auch wenn "Kariuki" in meiner Heimatstadt spielt, ist es nicht meine eigene Geschichte. Aber sie stammt aus einer Gegend, die meinem Herzen sehr nahe ist."

Meja Mwangi: Kariuki und sein weißer Freund. Eine Erzählung aus Kenia. Aus dem Englischen von Jürgen Martini und Helmi Martini-Honus. Lamuv Verlag GmbH Göttingen 1996, 157 S.
 



 

           GÜNTER GRASS: EIN WEITES FELD.
 

Wen eine Stadt wie Berlin mit ihrem speziellen Schicksal nicht kalt läßt, wer die Romane, Geschichten, Theaterkritiken und Reiseberichte von Theodor Fontane sehr mag, wer möchte, daß es in den deutsch-deutschen Beziehungen endlich wieder zu Sachverstand und auf dieser Grundlage vielleicht gar zu Achtung und Sympathie kommt, wen es darüber hinaus nach Liebe verlangt, hier hat er 781 Seiten voll davon!
Man sollte sie auf der Stelle zur Pflichtlektüre mindestens aller Mitarbeiter der Gauck-Behörde machen - die gefällige Kenntnisnahme der Lebensumstände Fontanes mit eingeschlossen: Den ungeliebten Apothekerberuf, dem er sich schon frühzeitig zu entziehen versuchte, das verzweifelte Streben danach, als Schriftsteller freischaffend arbeiten zu dürfen, ohne sich und seine Familie in Armut und Schande zu stürzen. Wie dieser Mann deshalb immer wieder nach einigermaßen ehrenvollen Geldquellen umherjagte, im diplomatischen Dienst des preußischen Staates England und Schottland bereiste, bei der stockreaktionären "Kreuz"-Zeitung eine gut bezahlte Stellung als Journalist annahm (diese, als die Zeit endlich gekommen war erleichtert aufatmend verließ), in Frankreich während der Ausübung seiner Tätigkeit beinahe als Spion erschossen wurde und trotz allem sein großes dichterisches Werk wachsen ließ, dem man sich nicht entziehen kann, das man lieben muß, wenn man es kennt.
Mit diesem Dichter wandern wir nun nach dem Mauerfall durch Berlin. Günter Grass ist es erstaunlich gut gelungen, den richtigen Tonfall zu treffen, die Zeitverschiebungen und -Überlagerungen zugleich sichtbar und vergessen zu machen.
Fontane heißt in seiner Geschichte WUTTKE, wird aber von allen echten und unechten Vertrauten FONTY gerufen. Der Humor, die Melancholie, die hilf- und ratlose Trauer, die Lebens-, Schau- und Beobachtungsfreude, das wache Registrieren der gesellschaftlichen Schwächen --- das alles ist so spannend, leicht lesbar und freundlich erzählt, daß man die ganze Geschichte des Fontane nicht nur als hochaktuell empfindet, sondern fast mit Sicherheit weiß: Dieser hier muß früher oder später vor die unheilig-diensteifrige Behörde, die ihm zwar nicht das Wasser reichen, aber veranlassen kann, daß er als "zwielichtige Person" vor eine Untersuchungskommission gestellt wird. "Leute", so ist die Botschaft dieses Buches von Grass, "es ist aberwitzig! Hört endlich auf damit!"
So weit, so gut! Was die Ignoranz und den in vierzig Jahren gezüchteten metaphysischen Hochmut in den alten Bundesländern und seine diensteifrigen Anhänger allerorts, die Auseinandersetzung mit den allein in ihre persönliche Macht Verknallten betrifft, ist das vollkommen richtig und verdienstvoll, aber der eilig geschluckte, zerdrückte, aus Arbeit und Sicherheit, aus kostenloser medizinischer Betreuung und reichen Bildungsmöglichkeiten entlassene Rest sieht -bedingt durch die qualitativ völlig neue Entwicklung nach dem Ende des Faschismus- Einiges etwas anders. Was sich uns darbietet als DEMOKRATIE, reimt sich nur auf .......! Dieter Süverkrüp sang es uns schon vor Jahren. Mit gesamtdeutscher Küsserei und gegenseitiger Achtung werden wir wohl noch solange warten, wie wir Angst um unsere Arbeit, unser Selbstwertgefühl und um unsere Kinder haben müssen. Da hilft kein melancholisch-liebevolles Grienen und kein noch so flott geschriebenes, kenntnisreiches Buch.
Sorry, Grass! Der Regen fließt nicht nach oben.

GÜNTER GRASS: EIN WEITES FELD. Steidl Verlag, Göttingen 1995, 784 S., 49,80 DM
 



 

STEFAN HEYM: EIN DICKER ROMAN. KEIN GROSSER.

Woran erkennt man die Größe eines historischen Romans? Daran, daß jemand jahrelang Recherchen gemacht hat? Daran, daß er es danach auf 600 Seiten brachte? Oder woran noch? Stefan Heyms RADEK ist für mich jedenfalls eine einzige Enttäuschung. Was dort an "Objektivität" geboten wird, gleicht bestenfalls einer durch das Bewußtsein Heyms gebrochenen Indiziensammlung, die sich wie eine triviale Brühe über die handelnden Personen ergießt, sie offensichtlich landläufig, gewöhnlich, klein und beliebig machen soll, und genau das waren die wichtigsten der handelnden Personen eben nicht. Keine Mitläufer, keine Unüberlegten, keine Feiglinge, keine Pöstchenjäger, keine verwaschenen Zauderer. Mit großer Entschlossenheit hatten sie sich aufgemacht, der himmelschreienden Ungerechtigkeit des Zarenregimes in ihrem Land ein Ende zu setzen. Frauen und Männer, eine verschworene Gemeinschaft zu diesem Ziel. Was da über Inessa Armand, Lenin und Nadjeshda Krupskaja im RADEK suggeriert wird, entspricht sicher der Vorstellung des Schreibers, aber wohl kaum den Tatsachen. Inez Armand hatte sich aus tiefster Überzeugung für den politischen Kampf entschieden und sich deshalb von ihrem Mann und ihren fünf Kindern trennen müssen. Einer solchen Frau steht ganz sicher nicht der Sinn nach irgendwelchen billigen, verwaschenen, schmuddeligen ménages à trois, wie in kapitalistischen bürgerlichen Kreisen der Langeweile und des Überdrusses üblich. Ich empfehle allen, denen der Sinn nach Wahrheit steht, das Buch von Pawel Podljaschuk INESSA (Dietz Verlag, Berlin 1987) zu lesen, um mit dieser Frau nähere Bekanntschaft machen, ihr Umfeld, ihre Gedanken, ihren Weg, ihre Größe kennenlernen zu können. Gleichfalls empfehle ich folgende Quelle: Familie Uljanow, Dietz Verlag, Berlin 1988. Dem Heym ist offenbar bei seinen jahrelangen Recherchen das Bild der zarten, lieblichen Nadja von einst, das man nur mit Rührung betrachten kann, völlig entgangen. Würde er sonst von der "höchst unerotischen" Krupskaja reden? In welchem Etablissement, ist die unwillkürliche Frage, hat sich dieser flotte, runde, vergnügte ehemalige Sergeant sein Wissen über Eros geholt und bis in sein doch inzwischen hohes Alter zum Maß aller Dinge gemacht? Nichts, was ihn inzwischen erleuchtete und eines Besseren belehrte? Keine Erfahrungen mit wirklicher Freundschaft? Mit lebenslanger, begründeter Zuneigung? Mit den Schwierigkeiten menschlicher Beziehungen? Im Lexikon des Lebens nur bis Schmierigkeit gekommen? Und uns einen 600 Seiten langen Absud davon als Trank der Erkenntnis reichen wollen? Daß Nadjeshda Krupskaja durch die Belastungen des Alltags in den Zeiten der Emigration an einer Krankheit zu leiden begann, die besonders sensible, kluge Personen befällt (man kann darüber bei Morbus Basedow nachlesen!) und gegen die es damals kein Mittel gab, zumal die täglichen Belastungen nicht geringer wurden, ist für Heym ein zusätzlicher Anlaß, "objektive Betrachtungen" über ihre hervorquellenden Augen zu machen. Nicht viel Worte über ihre Tapferkeit, ihren Mut, ihre Treue, ihre schlichte Unterordnung unter die Forderungen des Tages, sonst doch Eigenschaften, die an Frauen, besonders an Ehefrauen, von allen Männern geschätzt werden, ich vermute, auch von Heym, für den Hausgebrauch. Daß Nadjeshda Krupskaja, als die Gruppe ausreisen durfte, eine Erklärung als "Frau Lenin" unterschrieb, hält Heym für feierlich. Sieht gar nicht, trotz jahrelanger Recherchen, daß es für europäisches Familienbesitzdenken das Einfachste, Einleuchtendste war, so zu unterschreiben. Das taktisch Klügste, um lästigen Nachfragen aus dem Weg zu gehen.
Ich hatte keine Lust, so ohne Weiteres einen halben Hunderter hinzublättern, obwohl ich sonst bei Büchern unserer Schriftsteller immer noch trotz der neuen Preise in den alten DDR-Lese- und Kaufleichtsinn verfalle. Aber ich konnte Zuflucht nehmen zum Vorabdruck der "Berliner Zeitung". Dort stieß ich gleich auf den neuralgischen Punkt, auf das Verhältnis zwischen Mann und Frau und damit auf die Schwächen der HEYMARBEIT. Zum Beispiel die Stelle, wo er das "Genie aus fremden Landen" und die zwei Rosas auftreten läßt. Die eine Rosa, die berühmte, muß immer nach Leo Jogiches schreien, weil sie sonst friert und kein warmes Bett hat. Die andere Rosa, die Assistenzärztin, verschafft dem mittellosen Radek durch ihre Arbeit Geld, gestopfte Socken und - selbstverständlich - ein warmes Bett. Mit dem Geld der für ihn arbeitenden Rosa schwirrt er ab zur dringend notwendigen politischen Arbeit in die Schweiz und beinahe auf der Stelle einer reizenden, russisch-italienischen Genossin, der Balabanoff, an den Hals, kann sich mit einem Rest schlechten Gewissens und folgender ergreifender Überlegung aber gerade noch bremsen, trotz des sinnlichen Mundes der Balabanoff und der Strähne, "die ihr verlockend über die gewölbte Stirn fiel": "Nein, diese lieber nicht, von der lassen wir unsere Finger, diese ist nur auf die eigene Person fixiert und ihre Haupbeschäftigung ist, sich selbst zu verwirklichen, was bei Tag angehen mochte, aber sich des Nachts als lästig erweisen würde ..." (sic!) In dieser BILD-Qualität geht es seitenlang. Man könnte lachend abwinken. Man könnte auch bekümmert denken: "Armer Kerl! Er schaffts nicht mehr und bleibt deshalb unter seinen Möglichkeiten." Wenn die Machart dieses Buches nicht so etwas Bösartiges, so etwas durch und durch Verfälschendes hätte! Etwas, was der historischen Wahrheit - trotz der gesammelten Details - eben nicht entspricht, im Bewußtsein der Leser aber kleben bleibt. Ein großer historischer Roman? Ein dicker. Zum heutigen Markt passend. Getreu dem alten Motto: Geld stinkt nicht. Diesem ebenso traurigen wie nicht ganz neuen Vorgang "verdanken" wir - gemessen am Gegenstand und Anspruch - die bisher schwächste HEYM-Arbeit. Wo bleiben eigentlich die "gelernten" Literaturkritiker mit dem längst fälligen Verriß? Sind sie inzwischen alle - täglich kündbar - bei der Firma "Des Kaisers neue Kleider" beschäftigt?

Stefan Heym: RADEK. Bertelsmann 1995, 600 S., 49,80 DM.
 



 

EBERHARD PANITZ: EIN MANN GIBT ANTWORT

Eberhard Panitz, seit 1959 als freischaffender Schriftsteller in der DDR bekannt geworden durch Bücher über eigenwillige Frauen, zum Beispiel auch biographische Berichte über Katja Niederkirchner und Tamara Bunke, gibt in seinem neuesten Buch einem liberalen, vielseitig interessierten Juristen und Staatsbeamten aus den alten Bundesländern freimütig Auskunft über sein ganzes Leben: Über Herkunft, Ausbildung, Vater, Mutter, Freundin, Frau, Kind und Privilegien.
Jeder, der in den Zustand gerät, sich solchen "Gute-Onkel-Fragen" stellen zu müssen und sich nicht einmal die friedlichste Variante leisten kann, den bestenfalls höflich-penetranten Befrager einfach stehen zu lassen, sollte sich das Buch von Panitz kaufen, als Anregung, wie man Ruhe bewahrt und antwortet und antwortet und antwortet ...Ob der gute Westonkel leicht tadelt oder lobt, ob ihm manchmal etwas dämmert oder ob er gar nichts kapiert, verzage nicht, Ostmensch! Antworte!
Auch wenn es zum Auswachsen ist: Es dient dem Zusammenwachsen! Antworte also! Panitz läßt seinen Herrn O. genau das tun. Er behält die Ruhe. Läßt nichts unbeleuchtet von der Wiege an. Er erklärt, stellt richtig, sich sogar manchmal etwas quer, aber behält immer seine Ruhe. Das Gute daran: Er hat nichts zu verbergen. Nach so vielen richtig braven Antworten möchte man sagen: Leider! Und im Liebling-Kreuzberg-Ton gegenfragen: "Wat nu? Kann ick mich nu wieder anziehn? Ick krieje nämlich sonst 'n Schnupfen!"
Aber als Leitfaden für in Befragungsnot geratene, verunsicherte Ost-Seelen ist das "Verhör im Café" (immer noch) verdienstvoll.

Eberhard Panitz: Verhör im Café. GNN-Verlag Schkeuditz 1996, 198 S., 19,80 DM.
 



 

"UND WENN DIE WELT VOLL TEUFEL WÄR" oder: welche Bilder Landgrafs Buch über Martin Luther in mir wach gerufen hat

 
Die Erde im Mansfelder Land ist rot. Ich kam von der Ostseeküste in diese Gegend, um mich hier einer notwendig gewordenen Trennung mit damals noch nicht absehbaren, verheerenden Folgen zu unterziehen, ließ vom Abteilfenster aus die mittelalterlich anschaulichen Stationsnamen auf mich wirken: Teutschenthal ... Wanzleben ... Erdeborn ... Helfta ... und dann traf es mich plötzlich wie ein Schock. Ich nahm die Farbe der Erde wahr. So hatte ich sie noch nie gesehen. Sie war rot. Ein unvergeßlicher Anblick.Nein, kein schreiendes, lustiges Signalrot, sondern ein dunkles, kupfriges, als wäre diese Erde seit altersher von Zeit zu Zeit mit Blut gedüngt worden. Das traf den Kern: Hier befand sich seit hunderten von Jahren das Zentrum des Kupferbergbaus und damit unlöslich verbunden ein traditionell bedeutendes Zentrum der Bergarbeiter beim Kampf um ihre Rechte. Ein zäher Menschenschlag, der sich hier behauptete: gewaltig und gewaltsam, voll abergläubischer Furcht vor dem unberechenbaren Berg, notgedrungen beharrlich zähe und von unbändiger Licht- und Lebensfreude. "Öbstern" war ausgleichendes Tun und zusätzlicher Gelderwerb immer gewesen. Um Eisleben herum ein Garten Eden mit Obst aller Art (nirgendwo aß ich schmackhaftere Kirschen). Plantagen von unglaublicher Fülle und Lieblichkeit. Wie mag's jetzt dort aussehn? Ob dort auch die willfährige Axt gehaust hat?
Damals, als ich Eisleben kennenlernte, rauchten noch die Schlote, wurde glühende Lava abgekippt. Doch obwohl der Wind oft dicke Schwaden in die Stadt drückte, saßen die Nachbarn gemütlich schwatzend auf Stühlen vor der Tür und genossen den Feierabend, während ich vom Ostseewind verwöhntes Greenhorn meinte, erstickt zu werden.
Alles in der bemerkenswerten Stadt hatte Patina vom Ruß. Bei geöffnetem Fenster lag morgens eine hauchfeine Ascheschicht auf allen Gegenständen in der Wohnung. Gewohnheitssache! Kein Grund, seine Fröhlichkeit darüber zu verlieren! Und obwohl der Berg langsam weniger hergab, viele Arbeiter in Bussen schon nach Sangerhausen zur Schicht gefahren wurden, der große Slogan: "Ich bin Bergmann, wer ist mehr?" wirkte unverkennbar weiter. Die Bergmannsfamilien lebten gut in ihren Häusern, in ihren Neubauwohnungen, in ihren Gärten, hatten sicheres Einkommen und ein durch eigene harte Arbeit wie für die Ewigkeit begründetes Selbstbewußtsein.
Einmal im Jahr feierten alle zusammen das Wiesenfest. Auch Tradition. "Früher", so erzählten die Älteren, "gab es deswegen schulfrei - weil sonst sowieso niemand gekommen wäre." Die öffentlichen Arbeiten wurden auf ein Minimum reduziert. Groß und Klein strömte unaufhaltsam zur "Wiese". Sie hatten sogar ein Lied dafür. Das geht etwa so:
 
Wiesenmarkt muß sinn
da jehn wir alle hin
Da woll'n wir keine Kläje sehn
Da woll'n wir unsrer Weje jehn
Die Tage hingerher
Da klägen wir umso mehr.
Ein extra Erlebnis wurden mir Sprache und Tonfall der Menschen aus der Eisleber Gegend. Man sagte dort beispielsweise nicht unten, sondern ungene, nicht hinten sondern hingene, überhaupt, vieles was im Hochdeutschen kurz ausgesprochen wird, wurde dort gedehnt und umgekehrt, P wie B, T wie D - hart wurde zu weich, weich zu hart. Nu, äbn: "Pißmargherink". Für mich ein ewiger Spaß. Kein Hohn.
Es wird uns nun nicht mehr wundern, daß der Vater des großen Reformators Hans Luder hieß. Wolfgang Landgraf erzählt uns in seinem Buch eine uns sehr aktuell erscheinende Geschichte. Ein treusorgender, hart arbeitender, im sich gerade erst entwickelnden Gewerbe zu einigem Besitz gekommener Vater will, daß es seinem lieben und, wie es scheint, aufgeweckten Sohn einmal besser geht. Drum schickt er Martin auf die Lateinschule und, weil sich der Bengel zur großen Freude des Vaters gut macht, von einer Hochschule zur nächsten besseren. Von Magdeburg nach Erfurt. Er scheut keine Ausgaben. Es war weder für diesen Vater (von den Müttern wird nicht viel berichtet. Wir können uns aber Hans Luder und seine Frau Margarethe auf einem Bild von Lucas Cranach ansehen. Zwei schlichte und strenge Menschen, die ihren Sohn in Gottesfurcht gegen Lüge und Müßiggang nach bestem Gewissen erzogen haben.) noch für die Allgemeinheit leicht, zu leben: Kirche und Adel pressen das Land aus. Es herrscht unvorstellbare Not bei dem Stand, der die Nahrungsgrundlage schafft, bei den Bauern. Die Tagelöhner sind ein Nichts. Nur Hunger, Elend und Jammer.
Zu allem Unglück bricht auch noch die Pest aus und wütet tödlich unter den Menschen. Martin Luther verliert seinen besten Freund und vermutet in großer Furcht die Strafe des allmächtigen Gottes. Er, inzwischen Magister der sieben Künste, der schon Vorlesungen hält, und sich zur Freude seiner Eltern darauf vorbereitet, Jurist zu werden, schmeißt alles hin, um als Mönch die Gnade Gottes zu erlangen.
Sein Vater ist zutiefst enttäuscht. Bei aller eigenen frommen Gottgläubigkeit hält er derlei Konsequenz im Verhalten seines Sohnes schlicht für übertrieben. Für schnöden Undank eigentlich.
Ein Konflikt, der sich, wie wir sehen, mit der gleichen Vehemenz und aus nicht ganz unähnlichen Gründen schon seit über vierhundert Jahren abspielt.
Happy end wie bei den meisten großartigen Eltern und ihren begabten Kindern: Der Sohn wird zum Priester geweiht und der Vater gibt ihm zu Ehren ein Festessen für zwanzig Personen, von dessen Preis ein Student hätte ein ganzes Jahr leben können. Von da ab widmet sich der Bericht ausschließlich dem jungen Empörer, seinem aufreibenden Kampf gegen die Heuchler und Wechsler im Bereich der Kirche - allen voran gegen den Papst, den er Verräter der Christenheit nennt.
Das arme Volk liebt ihn, sieht in ihm den gelehrten Freund und Helfer aus der Not, den natürlichen Mitstreiter im Kampf um ein menschenwürdiges Leben. Es erhebt sich verzweifelt unter der Bundschuhfahne mit selbstgebauten Waffen gegen gutgepanzerte Ritter und Burgherren, erringt viele Siege und wird doch zum Schluß regelrecht abgeschlachtet.
Das ist Luthers Sache nicht mehr. Er war gegen alle Teufel der Welt angetreten. Um die Christenheit zu retten, hatten er und seine Anhänger sich vom Papsttum getrennt. Seine gewaltigen Predigten brachten Hoffnung, seine Bibelübersetzung, seine Lieder spendeten Trost und machten Mut. Er vertraute der Kraft des Wortes.
Die entfesselte Wut derer, die seit Jahren nur noch die Wahl hatten, im blutigen Kampf oder vor Hunger zu sterben, erschreckte, verwirrte, verbitterte ihn. Er hatte sicher Armut in schlimmer Form gesehen, aber nie selbst durchleiden müssen. Das ergab eine Grenze, die er nicht mehr zu überwinden vermochte. So wie er einst als Sohn des aufstrebenden Bürgertums sich entschlossen gegen den Papst gestellt hatte, so stellte er sich jetzt im Schutz mächtiger Freunde gegen die "räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern". Als seine Kräfte noch nicht aufgerieben waren, soll er einmal halb sarkastisch, halb im Stolz gesagt haben: "Ich vertreibe den Teufel mit Tinte". So sehr vertraute er seinen Agitationsschriften. Er war, als Sohn aus dem Land der roten Erde, in Furcht vor seinem allmächtigen Gott wie vor einem unberechenbaren Berg, von großen Selbstzweifeln geplagt, auf dem Weg zur ewigen Seligkeit.
Ein stolzer, ein kühner, ein lebensfroher Mann. Einer, der nicht mitansehen konnte, wie Werke von Kunst und Wissenschaft in Flammen aufgingen - sinnlose Zerstörung nicht nur fürchtend, sondern hassend.
War er blind für die wirklich Bedürftigen, die nur die Wahl hatten zwischen Sterben und Verderben? Die sich erhoben, den ihren Teil vom großen wunderbaren Leben nicht mehr länger zertreten zu lassen?
Mit Sicherheit berühmte Leute, die mit Sicherheit tot sind, werden mit Sicherheit von der überaus putzigen Nachwelt mit allerlei Quark geehrt. Es gibt Schillerlocken, süß und geräuchert, Mozartkugeln, rund und lecker, auch den Hund Beethoven haben wir schon. Leckt-mich-am-Arsch-Brezeln von Goethe gibt es noch nicht aber irgendein findiger Gast in dieser käuflichen Gegend wird wohl noch die Lücke im Markt entdecken und sich auf Deubel-komm-raus damit selbstständig machen.
Für Luther, den massigen Kerl, der gern aß, erschuf ein deutscher Bäcker ("Wir Handwerker fürchten Gott und sonst nichts auf der Welt") das "Lutherbrodt". Hallelujah! Ein ebenso wackerer Fleischer oder Gastronom bietet die "Lutherplatte" mit gesottenem Huhn an, nach den Rezepten der rebellischen Katharina.
Den geplagten Verlegern von NEUES LEBEN kam ein besserer Gedanke. Sie offerieren uns in dritter überarbeiteter Auflage Wolfgang Landgrafs Buch. Es ist ein Lichtblick in all dem brutzelnden Fett und triefenden Honig des Gedenkjahres. Es zeigt unpolemisch, schlicht und faktenreich mit großer Überzeugungskraft den Lebensweg eines Mannes, der die Grenzen seines Standes sowohl überspringt, als auch in ihnen gefangen bleibt.
Großer Reformator oder in Wohlleben verfetteter Verräter? Wer wirft den ersten Stein? Was taten denn wir mit unserem ganzen klugen Wissen, die wir doch den getreuen Müntzer lieben? Retteten wir unsere kostbaren Errungenschaften? Verhinderten wir das Fällen eines einzigen Apfelbaumes? Verhinderten wir, daß immer mehr Menschen ohne Arbeit sind, daß die ohne Arbeit obdachlos auf der Straße erfrieren? Zittern wir nicht von einem Tag zum anderen um unser täglich Brot, um unser kostbares bißchen Leben? Zergrübeln wir uns nicht die Köpfe auf welche sinnvolle Weise wir unsere Freunde und Genossen nicht nur zusammenhalten sondern mit ihnen gemeinsam wieder wirksamer aktiv werden können, gegen den "altbösen Feind", der uns unverschämter denn je angrinst? Auf dem Marktplatz zu Eisleben steht ein stämmiger Mann mit dem Buch seines Lebens in den Händen (er stand dort in stiller Nachbarschaft mit einem anderen Großen, den die Leute liebevoll spöttisch "Planbruder" nannten). Wir wollen ihm Gerechtigkeit widerfahren lassen, unsere Sache eines Tages besser machen! Das wird und muß gelingen.

Wolfgang Landgraf: Martin Luther. Biographie. Verlag Neues Leben, Berlin 1995, 302 S.
 



 

M Ü S S E N ,  D Ü R F E N   U N D   K Ö N N E N

Wie Frauen um ihre Menschenrechte kämpfen  m ü s s e n  und daß Männer - scheinbar überall in der Welt, wenn sie sich nicht gerade in Kriege treiben lassen - faul wie die Sünde hohles Zeug quatschen und quatschen und quatschen und das auch noch als höhere Philosophie verkaufen dürfen, davon erzählen diese beiden Bücher.
Abgesehen davon, daß die notwendige Kunst der Buchgestaltung immer mehr billigen Erwägungen der Vermarkter weichen muß, derart etwa, daß "die Masse" eher zu wie Schmöker Aufgemachtem greift, ist die Erzählung von Marge Piercy im Gegensatz zu dem vage bunten Umschlag warmherzig, gut beobachtet und durchaus lesenswert geschrieben.
Unter dem ihrer Mutter gewidmeten Motto (Zeilen aus einem ihrer Gedichte)
 

DIE SEHNSÜCHTE DER FRAUEN
FLÜGELSCHLAG VON FALTERN
GEGEN DECKEN
BLAUGEMALT WIE HIMMEL
läßt die Autorin die Lebenswege von ganz verschiedenen Frauen sich kreuzen. Da ist die geduldige, verständnisvolle Dozentin mit dem ewigen Seitenspringer von Ehemann, dem sie schon viel zu lange verzeiht und immer noch liebt. Da ist die Frau mit den vielen Kindern von immer neuen Liebhabern (diesmal wird alles ganz anders!).
Wir treffen eine blutjunge, begabte, ehrgeizige Immigrantin die sich in Deutschland, koste es was es wolle, erfolgreich behaupten will, und die zum Schluß trotz aller guten schulischen Abschlüsse im Gefängnis landet.
Wir lernen eine unverschuldet Obdachlose kennen, die als Tierbetreuerin und Putzfrau - alle ihre Habseligkeiten in als Rieseneinkaufstasche getarntem Gepäck immer bei sich - durch viele Haushalte wandert, ihre Obdachlosigkeit verzweifelt geschickt verbergend, hier mal schlafend, dort mal duschend, woanders wiederum ein paar Lebensmittel mitnehmend oder Reste essend, immer pünktlich, fleißig und sauber duftend zur Stelle, bis die spontane Solidarität mit einer anderen Obdachlosen sie unversehens krank macht und in fast ausweglose Schwierigkeiten stürzt.
Wie ein Kater aus dem Tierheim erlöst wird und wie ein schwerverletztes Kätzchen n i c h t verrecken muß - das ist fast zuviel, um glaubhaft erzählt und begründet zu werden. Und doch gelingt das Marge Piercy. Das ist viel.
Besonders, wenn man sich danach durch die hohlen Sprechblasen von Nuruddin Farah "Wie eine nackte Nadel" kämpfen muß.
Er läßt seinen somalischen Lehrer Koschin auf die Ankunft von dessen ehemaliger Freundin Nancy warten.
Die beiden haben in Europa studiert und einander zu heiraten versprochen, wenn sie innerhalb von zwei Jahren keinen anderen Partner finden würden. Nancy ist nach Ablauf dieser Zeit auf dem Weg nach Somalia ohne Kenntnis der allgemeinen Zustände im Land und der besonderen um Koschin herum und vor allem der speziellen Verfassung von Koschin selbst. Zum Brechen faul und zugleich selbstgefällig meditiert und vegetiert dieser in seinem eigenen Dreck vor sich hin, seine Antriebslosigkeit mit lateinischen und andern weisen Sprüchen dekorierend.
Ein Maulheldphilosoph der allertristesten Sorte, wie wir ihn an jeder Straßenecke oder auch hier und dort in den Medien finden, wo er und seinesgleichen sich breit machen dürfen als Sprecher und Vordenker von jeweils etwas ganz Neuem, in das man sich möglichst schnell und bequem eingliedern oder sich ersatzweise wenigstens beruhigend brav verhalten sollte.
Man bescheinigt Nuruddin Farah auch für dieses Buch, ein Meisterwerk der Erzählkunst abgeliefert zu haben und preist sein Gesamtwerk als Pflichtlektüre über Afrika.
Ich weigere mich, nach Lektüre dieses "Leerstücks", das zu glauben. Ich weigere mich, zu glauben, etwas Wesentliches über Afrika kennengelernt zu haben. Denn Faulheit, Dummheit, Korruption und Schmutz sind sicher keine Kennzeichen von Afrika allgemein noch speziell von Somalia.
Sie sind höchstens die verhängnisvolle Erbschaft jener, die mit Perlen, Feuerwaffen und Feuerwasser von Verbrechern bestochen wurden, die wirklichen, unersetzlichen Reichtümer ihres Landes widerstandslos zu verhökern.

Marge Piercy: Sehnsüchte. Argument Verlag 1996, 500 S.
Nuruddin Farah: Wie eine nackte Nadel. Lamuv Verlag Göttingen 1996, 334 S.


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